Friedhöfe, Friedhofssektionen, Grabmäler, Grabsteine, Inschriften, Wörter, Symbole, Motive und Formen bilden komplexe Strukturen durch die sich einzelne Personen, Familien, religiöse oder ethnische Gruppen in ihrer Zeit, in ihrem Raum, in ihrer sozialen Umwelt und in ihren metaphysischen Vorstellungen lokalisieren. Durch gemeinsame Referenzen, Ähnlichkeiten oder räumliche Nähe entstehen Netzwerke von Vorfahren, Kameraden, Kollegen, Namensvettern, Leidensgenossen, Mitgläubigern, Mittätern, Selbstmördern oder nur zufällig Zusammengelegten, die durch die Systematik ihrer Bestattungsform oder ihrer Grabinschriften einen Aufschluß über ihre Rolle in einer Zeit oder in einem geographischen oder sozialen Raum zulassen.
Die meisten dieser Netzwerke erzählen jeweils nur wenige Geschichten. Die große Anzahl an möglichen Netzwerken, die Zugehörigkeit einer Person zu vielen Netzwerken sowie der Vergleich ähnlicher Netzwerke aus verschiedenen Zeiten oder Regionen ermöglichen jedoch vielschichtige Einblicke in vergangene Kulturen, Lebensweisen oder Machtstrukturen. Darüber hinaus können diese Netzwerke auch im Rahmen einer abstrakten Betrachtung der Entwicklung solcher sozialen Strukturen herangezogen werden. Aspekte einer solchen theoretischen Betrachtungsweise sind die Entstehung einer Tradition aus einer erfundenen Praxis, die Transformation einer Tradition durch Migration (Goudin et. al. 2011), die Adaption einer Tradition an neue politische oder soziale Kontexte oder die Konsolidierung von Machtstrukturen durch die Neudefinierung von semantischen Feldern (Bourdieu 1979).
Voraussetzungen für solche Forschungsarbeiten ist eine flächendeckende und diachronische Dokumentation von Sepulkralkulturen, die bewußt viele mögliche Gegensätze einschließt, wie zum Beispiel Heldenfriedhöfe, Gräber nationaler Eliten, Heidenfriedhöfe, Selbstmördergräber, Klosterfriedhöfe, Fabriksfriedhöfe, Friedhöfe in dörflichen und städtischen Gemeinden, anonyme Gräber, Grabstätten ethnischer, sprachlicher, religiöser oder andersartiger Minderheiten etc. Eine solche Dokumentation der Unterschiedlichkeit, der Macht, der Unterdrückung und des Vergessens hilft, nationalistische, nationale oder auch gut gemeinte Schulbuchgeschichtsschreibung zu hinterfragen: Wer waren diese Leute, wo kamen sie her und was haben sie gemacht und gedacht? Wie war ihre Stellung in der Gesellschaft und wie hat sich diese im Laufe der Zeit verändert?
Dies ist der Forschungsansatz den wir seit 2007 in dem Projekt 'ThakBong' für Taiwan und seine umliegenden Inseln verfolgen. Die etwa 400-jährige Geschichte dieser Inseln ist geprägt von Migration und einer sich wiederholenden Abfolge von Kolonialherrschaften. Geschrieben wurden diese Geschichten aus der Sicht der jeweiligen Besatzer. Holländer, Spanier, Handel treibende Haudegen, Mandschuren, Japaner und Chinesen zwangen die Bevölkerung in ihre Kulturen, Religionen, Ideologien und Sprachen, wobei die „eigene“ Kultur meistens stark von der Kultur der vorhergehenden Besatzer geprägt war. Erst nach Aufhebung des Kriegsrechtes 1987 wurde es weiten Schichten der Bevölkerung möglich, aktiv ihre Identität außerhalb der Kultur der letzten Besatzer zu suchen. Dies führte zu einer Rückbesinnung auf Zeiten und Kulturen, die aus heutiger Sicht einen romantischen Rahmen für die moderne Daseinsform bieten. Diese Rückbesinnung reicht von einer vorgeschichtlichen, indigenen Basis, über eine an Japan angelegte Lebensform bis zur Identifizierung als Chinese. Diese unterschiedlichen Selbstbetrachtungen schließen sich nicht aus und können zeitgleich in einer Person oder einer Gruppe in unterschiedlichen Formen des Diskurs wiedergefunden werden.
In den acht Jahren des Projekts wurden in ca. 500 Tagen Feldforschung 700 Friedhöfe mit 59.000 Gräbern durch 212.000 digitale, georeferenzierte Fotos dokumentiert. Fotos werden zu verschachtelten Modellen von Friedhöfen, Gräbern, Grabsteinen und Inschriften in einer relationalen Datenbank zusammengeführt. Diese Modelle werden dann durch Annotationen und Transkriptionen angereichert und klassifiziert. Der daraus resultierende Datensatz wird allmonatlich aktualisiert und der Forschung zur Verfügung gestellt. Begleitet werden diese Daten von einer Batterie an Hilfsfunktionen, geschrieben in der Programmiersprache R, die einen einfachen Zugriff auf Gräber einer speziellen Region, einer speziellen Periode oder einer bestimmten Eigenschaft erleichtert. Einfache Analysen und Grafiken können hiermit in Programmen erstellt werden, die in der Regel zwischen fünf und zehn Zeilen umfassen (Streiter / Morris 2015).
Ein zentrales Element unserer Analyse von Inschriften ist der sogenannte Fokus. Der Fokus ist das Element der Inschrift, das durch seine Größe und seine Anordnung auf dem Grabstein hervorspringt und, semantisch betrachtet, nicht die Unterschiedlichkeit der Verstorbenen unterstreicht, sondern deren Einbettung in eine wirkliche oder imaginäre Gemeinschaft. Mögliche Realisierungen des Fokus sind ein Kreuz, eine arabische Sure, eine Swastika, ein Ortsname, ein politisches Symbol oder der Name einer politischen Ära.
Der Ortsname, der am häufigsten vorkommende Fokus, kann in drei Untergruppen unterteilt werden. Dies sind a) lokale Ortsnamen, die auf einen Ort auf Taiwan verweisen, b) Ortsnamen in China, 'Jiguan' genannt, die den Ausgangspunkt einer Migration aus den südchinesischen Provinzen Guangdong and Fujian benennen und c) Ortsnamen in Nordchina, genannt 'Tanghao', die auf die historischen aber nicht unbedingt heute existierenden oder lokalisierbaren Orte verweisen, in deren Zusammenhang ein chinesischer Familienname erstmals schriftlich erwähnt wurde. Diese Kopplung von Familienname und Ortsnamen wurde seit der Periode der südlichen Song im Buch der Einhundert Familiennamen zusammengefaßt (Theobald 2011). Obwohl die meisten Familien im Prinzip auf jeden dieser drei Typen zugreifen könnten, wird, geschichtlich und regional betrachtet, jeweils einer dieser drei Ortsnamentypen bevorzugt (Streiter / Goudin 2013, 2014 ).
Alle drei Untergruppen könnten oberflächlich gesehen sehr leicht als Ausdruck einer Identität interpretiert werden. Der Taiwanische Ortsname stünde demnach für eine lokale Identität, die entweder aus der indigenen Geschichte Taiwans oder aus einer Abkehr von China zu erklären wäre. Das 'Jiguan' unterstrich die Verbundenheit mit Südchina, den gemeinsamen südchinesischen Sprachen und Gebräuchen und der Migration die hauptsächlich in der Qing Periode stattfand. Das 'Tanghao' verwiese, der gleichen Logik folgend, auf die Wiege der chinesischen Kultur in Nordchina.
Aber wie der Fall des 'Tanghao' zeigt, können ideologische Bestrebungen der nationalistischen chinesischen Regierung in Taiwan die Präferenz für das Tanghao besser erklären als es die zirkuläre Interpretation eines Identitätsausdrucks vermag, denn durch das Tanghao verschmelzen die imaginären Ursprungsorte der lokalen Bevölkerung, die über den Familiennamen identifiziert werden, mit den Herkunftsregionen der Chinesen, die mit Chiang Kai-shek nach dem verlorenen Bürgerkrieg 1949 als Besatzer nach Taiwan kamen. "Obwohl der Weg ein anderer war, ist der Ursprung der gleiche." Dies ist ein Mantra, das bis heute von der regierenden nationalistischen chinesischen Partei immer wieder in unterschiedlichen Formen bemüht wird (Office of the President, Republic of China 2012).
Ebenso verschwand das 'Jiguan', die Referenz auf die Migration von Südchina, von den Grabsteinen Taiwans in dem Maße, wie die Kolonialmacht Japan bestrebt war, die Bürger Taiwans zu seinen Bürgern zu machen. Die Hoffnung, die lokale Bevölkerung an dem Krieg der Besatzer teilnehmen zu sehen, dürfte bei diesem Bestreben ebenso eine Rolle gespielt haben, wie wenige Jahre später, als eine Chinesische Identität lokale Taiwanesen motivieren sollte, China von der Kommunistischen Partei zurückzuerobern.
Ein Verständnis der Bedeutung der Ortsnamenwahl kann also nicht über eine oberflächliche Kongruenz von Ausdrucksform und möglichen Inhalten ermittelt werden. Vielmehr gilt es zu ermitteln, welche Ausdrucksformen überhaupt in welcher Zeit und in welcher Region mit welchen syntaktischen Funktionen zur Verfügung standen und welche Ausdrucksformen in welcher Weise den jeweiligen Besatzern entgegenkamen.
Unsere Analysen unterstreichen in diesem Zusammenhang die Rolle von professionellen Steinmetzen, im Gegensatz zu handwerklich geschickten, aber semantisch ungeschulten Kräften, die, involviert in den Bau des Grabes, gleich die Beschaffung und Beschriftung des Grabsteins mit übernahmen. Die Professionalität, mit der dieser den Grabstein bearbeitete, läßt sich mathematisch einfach ermitteln, da, für das ungeübte Auge unsichtbar, der Grabstein in seiner Höhe, Breite und in der Anzahl der Schriftzeichen vom Fachmann durch glücksbringende Zahlen strukturiert wird, die durch Zufall vom Laien kaum reproduziert werden können. In unserer Analyse zeigen wir, wie die Inschriften der ungeschulten Handwerker, spontan und unsystematisch, selten zu einer langfristigen Entwicklung führten, während die Präferenzen der Steinmetze strategischen Entscheidungen im Rahmen der Traditionen einer Steinmetzschule unterlagen. Solche strategischen Entscheidungen wurden, wie unsere Analysen zeigen, zu Zeiten einer Krise getroffen, zum Beispiel bei der Eroberung durch ein anderes Regime, und wurden dann weitgehend beibehalten bis eine neue Krise zu neuen Entwicklungen führte.
Hierdurch ergibt sich eine Umkehrung der Beziehung von Ausdrucksform und Inhalt, zumindest in den Zeiten, im wesentlichen nach 1750 und in den urbanen Zentren, in denen der Einfluß von professionellen Steinmetzen nachgewiesen werden kann. Hier entwickelte sich die soziale Identität wahrscheinlich im Zusammenspiel mit einer historischen Interpretation der professionellen Inschriften. Aufgabe der Wissenschaft ist es, hier Elemente eines Diskurses in geographischer und zeitlicher Nähe nachzuweisen, die eine solche Annäherung von Inschriften und Identitäten ermöglichten. Es ist dieser integrierte Ansatz der Dokumentation und Analyse von Diskurs und materieller Kultur, die wir als Digitale Anthropologie bezeichnen.