Sprache als Netz: Diagnostik durch Visualisierung

Meindl, Claudia
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland
Meindl@em.uni-frankfurt.de

Rausch, Alexandre
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland
Rausch@rz.uni-frankfurt.de

Inhalt

Bis jetzt haben sich Sprachwissenschaftler viel mit der Frage beschäftigt, wie Menschen (sprachliches) Wissen erwerben. Aber auch wie wir Wissen verlieren, erlaubt einen Einblick in die Struktur unseres Geistes. Darüber ist aber vergleichsweise wenig bekannt, obwohl es bei einer Vielzahl von Erkrankungen auch zu sprachlichen Einschränkungen kommt, die von den Betroffenen und ihren Angehörigen als sehr belastend empfunden werden. Bedenkt man bspw. die Häufigkeit dementieller Erkrankungen (11% der über 65jährigen sind betroffen), ist es umso erstaunlicher, dass sich die Geisteswissenschaften mit ihrer Expertise bis jetzt an der Entwicklung diagnostischer Verfahren kaum beteiligt haben. In der klinischen Praxis der Demenz-Diagnostik kommt dabei der Spontansprache eine große Bedeutung zu. Hier ersetzt oft aus Kostengründen ein Gespräch eine umfangreiche, testpsychologisch basierte Diagnostik mit zum Teil gravierenden Folgen für die Betroffenen.

Dabei wird vorausgesetzt, dass die Sprache den kognitiven Abbau widerspiegelt, und sich der Untersucher auf der Basis seiner Wahrnehmung ein reliables Urteil bilden kann. Unsere Wahrnehmung lässt es aber nicht zu, beim Lesen und Hören Erzählverläufe zu erfassen und auf mögliche Auffälligkeiten zu achten. Auch eine Mustererkennung ist auf diese Weise nicht möglich. Bereits nach wenigen Probanden bleibt lediglich ein Eindruck haften, und es lassen sich zudem auch schwerwiegende Wahrnehmungsfehler nachweisen (bspw. in der Einschätzung der Kohärenz).

In der sprachlichen Diagnostik werden aber auch die Grenzen eines rein kategorialen, frequenzorientierten Ansatzes schnell sichtbar. Untersucht man typische Phänomene der Spontansprache und der Textproduktion, zeigt sich, dass die dort eingesetzten Kategorien zwar theoretisch gut abgesichert sind, die Trennschärfe aber wegen der großen Varianz viel zu gering ausfällt. Und die traditionellen, regelbasierten Modelle der generativen Grammatik können zwar zur Entwicklung von Testmaterial auf der Satzebene gewinnbringend herangezogen werden, ihr Beitrag zur Analyse von Texten und Diskursen ist aber gering. Gerade den größeren Domänen wird aber eine höhere ökologische Validität zugeschrieben (der Mensch als Dialogwesen). Weigand (2003: X) fordert auch deshalb für die Linguistik, dass Erklären nicht automatisch auf das Zurückführen einer Regel gesehen werden sollte:

„(…) Das Problem liegt nicht mehr in der Relation zwischen regelgeleiteter Kompetenz und die Regel überschreitender, chaotischer Performanz, sondern bezieht sich auf einen komplexen Zusammenhang von Ordnung und Chaos, auf Kompetenz-in-der-Performanz. Dies ist unser Gegenstand. Hier trifft sich die Linguistik mit anderen Disziplinen (…). Es gilt, sich der Komplexität zu stellen, anstatt von ihr zu abstrahieren. Orthodoxes methodologisches Denken ist zu überprüfen und gegebenenfalls aufzugeben.“ (Weigand 2003: X).

Eine Möglichkeit, sich dieser Komplexität zu stellen, liegt u. E. in der Anwendung der Graphentheorie auf psycholinguistische Fragestellungen und Datensätze, genauer: in der Visualisierung sprachlicher Daten. Im Rahmen einer umfangreichen Studie mit 60 Demenzpatienten und gesunden älteren Kontrollprobanden wurden unterschiedliche Datensätze in den Domänen Wort, Satz und Text/Diskurs erhoben und ausgewertet. Im Bereich Text soll an drei verschiedenen Textsorten (Wegbeschreibung, Bildergeschichte und Interview) beispielhaft gezeigt werden, wie solche sprachlichen Daten visualisiert werden können und welche Analysemöglichkeiten sich damit für den Bereich Diagnostik eröffnen. Die drei Textsorten unterscheiden sich in verschiedenen Aspekten: Wegbeschreibungen und -auskünfte sind bspw. durch eine zielorientierte Ökonomie gekennzeichnet. Untersuchungen zeigen, dass eine ideale Wegauskunft sich auf sehr wenige, gut überschaubare Lokalisationen konzentriert und Wiederholungen und unnötige Spezifikationen vermeidet. Das Erzählen einer Bildergeschichte bietet dem Sprecher schon deutlich mehr Gestaltungsmöglichkeiten, hier kann bspw. von einer source-path-goal-Strategie abgewichen werden. Oft werden solche elizitierten Geschichten auch inhaltlich stark angereichert. Damit wird auch die Aufgabe der Modellierung und Visualisierung anspruchsvoller. Interviews schließen lassen sich zwar in Frage-Antwort-Paare strukturieren, die aber oft quer zur inhaltlichen Strukturierung liegen. Außerdem muss hier zusätzlich die Gesprächsorganisation abgebildet werden können.

Mit einem graphentheoretisch basierten Ansatz eröffnet sich ein neuer Zugang im Bereich Diagnostik: Während die Kodierung einzelner Informationen nur die Aggregation einzelner Variablen zulässt (also bspw.: Kommt Proposition x häufiger vor als Proposition y; kommt Proposition x immer mit Proposition y vor etc.?), erlauben Netzwerkmatrizen eine synoptische Visualisierung und damit einen direkten Zugang zur Struktur, zum propositionalen Aufbau und bspw. auch zur Analyse von Linearisierungsstrategien. Die folgenden Abbildungen zeigen beispielhaft Visualisierungen der transkribierten Bildergeschichten, die mit dem Programm VisuaLyzer erzeugt wurden. Zunächst wurden die einzelnen Propositionen aufgelistet und die Matrizen aufgebaut. Die Knoten sind von links nach rechts in ihrer logischen (zeitlichen) Abfolge angeordnet. Sind mehrere Propositionen einem Zeitpunkt zugeordnet, werden sie übereinander angeordnet dargestellt. Die horizontalen Schichten des Graphen stellen die Kontexte dar, die vertikalen Schichten die Zeitpunkte. Die Nummern an den Pfeilen, also formal gesehen die gerichteten Kanten (die Bogen) des Graphen, geben die Position in der Erzählsequenz an. Unsere Wahrnehmung lässt es nicht zu, beim Lesen oder Hören Erzählverläufe zu erfassen und auf mögliche Unterschiede bei den Probandengruppen zu achten. Bereits nach wenigen Bildergeschichten bleibt lediglich ein Eindruck haften. Mit dem Graphen wird es aber möglich, die Struktur der Bildergeschichten zu visualisieren und damit analysieren zu können. Einige Beispiele sollen zeigen, wie unterschiedlich Erzählverläufe aussehen können:

Abb. 1: kreb, Alzheimer Demenz

Abb. 2: oeh, Alzheimer Demenz

Die Geschichte des Alzheimer Patienten „kreb“ besteht nur aus drei Sequenzen, die kaum verknüpft sind. Bei der Abbildung 2 (Alzheimer-Patientin „oeh“) wird deutlich, dass sich diese Demenzpatientin nur auf das Ende der Geschichte konzentriert und die ersten Sequenzen nicht realisiert werden. Auch die Perseverationen werden als Loops sichtbar. Allerdings produzieren auch die gesunden Kontrollprobanden Erzählungen mit nur wenigen Propositionen und minimalem kognitiven Planungsaufwand, wie die Abbildung 3 (gesunde Kontrollpatientin „rei“) beispielhaft zeigt. Die Geschichte der gesunden Probandin „fcon“ (Abbildung 4) dagegen realisiert zwar viele Propositionen, häufige Rückverweise lassen sie aber als wenig strukturiert erscheinen.

Abb. 3: rei, Kontrollgruppe

Abb. 4: fcon, Kontrollgruppe

Aggregiert man einzelne Graphen über Gruppen wird auch die Variabilität bei bestimmten Items sichtbar, was hilfreich bei der Entwicklung von diagnostischen Instrumentarien sein könnte (vgl. Abbildung 5). Für die Beschreibung des Zeitpunktes 17, der für die Probanden das Kernereignis repräsentiert, werden 26 verschiedene Versionen (P-Knoten) gewählt, bei den Eingangssequenzen der Geschichte gibt es dagegen kaum Variation. Sichtbar wird auch, welches Weltwissen als geteilt angenommen wird.

Abb. 5

Abbildung 6 zeigt abschließend beispielhaft die Visualisierung eines Interviews mit einem Alzheimer-Patienten. Hier kann man bspw. den thematischen Aufbau, die Turnorganisation, die Redeanteile oder auch die Rückverweise erkennen.

Abb. 6: Interview Alzheimer-Patient

Dieser Ansatz ist allerdings nicht für alle Datensätze geeignet. Abschließend sollen deshalb die folgenden Probleme kurz diskutiert werden: Wo könnten die diagnostischen Grenzen liegen, wenn man mit Visualisierungen in diesem Bereich arbeitet (bspw. in der Komplexität der Graphen)? Wie lässt sich eine solche, auch auf Visualisierungen basierende Diagnostik theoretisch und durch externe Kriterien empirisch absichern? Und wie kann eine Brücke geschlagen werden zwischen dem oft deduktiven Vorgehen der Psycholinguistik und dem zumeist induktiven Vorgehen der Korpuslinguistik?

Appendix A

Bibliographie
  1. Weigand, Edda (2003): Sprache als Dialog. Sprechakttaxonomie und kommunikative Grammatik. Tübingen: Niemeyer-Verlag.