Kafkas Werkbiographie ist Gegenstand divergierender Forschungsmeinungen. Besonders seine Tagebücher und ihr Zusammenhang mit dem übrigen Werk wurden und werden kontrovers diskutiert. Unterscheidet sich sein literarisches Werk von seinen übrigen Aufzeichnungen, gibt es eine Entwicklung in Kafkas Schreibstil und lassen sich aus Kafkas Aufzeichnungen überhaupt Rückschlüsse auf dessen Psyche ziehen, - das sind Fragen, die die Kafka-Forschung seit gut einem halben Jahrhundert beschäftigen. Mehrheitlich geht die Forschung dabei von der These aus, dass sich in Kafkas Schreiben literarisches Werk und Tagebücher nicht unterscheiden lassen, vielmehr sein Schreiben als ein geschlossenes Ganzes gesehen werden müsse, das immer abstrakter und rätselhafter werde. Vor diesem Hintergrund werden Aussagen über Kafkas psychische Verfasstheit teils auf Basis der Gesamtheit der Aufzeichnungen getroffen - ungeachtet formaler Eigenheiten und Differenzen zwischen diesen (Engel / Auerochs 2010). Diese Thesen der Kafka-Forschung wurden von uns in einem neuen Verfahren überprüft. Teilweise finden wir sie bestätigt, teilweise aber auch sind sie zu revidieren. Auf der Basis des Projekts ziehen wir weiterreichende Folgerungen für einen psychostilistischen Ansatz in der literaturwissenschaftlichen Forschung.
Unser Vortrag stellt einen psychostilistischen Untersuchungsansatz vor, der persönlichkeitspsychologische und stilometrische Methoden verbindet. Ziel unserer Analysen ist die Verbesserung der Reliabilität und Validität der literaturwissenschaftlichen Forschung, hier der Forschung zu Kafka. Dazu haben wir zunächst die bisherige Kafka-Forschung philologisch aufgearbeitet und die verschiedenen Positionen in der Debatte um Kafkas Werke und insbesondere seine Tagebuchaufzeichnungen identifiziert und typisiert. Analog zu Klassifizierungen der Tagebucheinträge in der Kritischen Ausgabe (Koch 1990) haben wir Kafkas Werk in Korpora eingeteilt (frühe vs. späte Schriften, literarische vs. nicht-literarische Schriften). Dann haben wir ausgehend von der sozialpsychologischen Forschung über den Zusammenhang zwischen Wortgebrauch und Persönlichkeit (Chung / Pennebaker 2007; Ireland / Pennebaker 2010) die Korpora genauer untersucht. Mit einem diktionärbasierten Ansatz (Wolf et al. 2008) haben wir den Wortgebrauch Kafkas digital und quantitativ näher analysiert und schließlich die Ergebnisse mit dem ausbalancierten Korpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache verglichen. Besonderes Augenmerk lag dabei auf dem Gebrauch der Pronomina, der Verwendung von Wörtern, die soziale Beziehungen ausdrücken, der Häufigkeit von positiven und negativen Emotionsworten und einiger weiterer, besonders persönlichkeitspsychologisch signifikanter Kategorien. Die Abbildung zeigt exemplarisch den Gebrauch von Pronominalkategorien in früheren („F“) im Vergleich mit späteren („S n-lit+S lit“) Schriften Kafkas:
Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich Kafkas Stil über die vergleichsweise kurze Zeit seiner Werkbiographie verändert hat. Um nur einige der Entwicklungen zu nennen: Selbst- und sozialbezügliche Äußerungen nehmen ab, negative Emotionswörter nehmen zu. Diese Veränderungen finden wir jedoch nur in Kafkas Ego-Dokumenten ausgeprägt, sein literarisches Werk weist diese Veränderungen im Wortgebrauch nicht auf. Vielmehr finden sich hier konstante Wortfrequenzen. Vor allem unterscheiden sich die als literarische qualifizierten Dokumente im Pronominalgebrauch von nicht-literarischen Texten. Das quantitativ-digitale Verfahren legt damit neben den Stilentwicklungen Genre-Signale offen, die eingehender untersucht wurden.
Unser Projekt demonstriert, dass und wie eine quantitativ-digitale Methodik eine genauere Erfassung stilistischer Eigenschaften ermöglicht. Damit können Ergebnisse konventioneller literaturwissenschaftlicher Forschung überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Außerdem erweist sich einmal mehr, dass Texteigenschaften empirisch in Daten abgebildet werden können, Daten, die dann als Grundlage für weitere literaturwissenschaftliche Forschung herangezogen werden können. Die Analyse wurde deshalb durch die Betrachtung anderer Korpus ergänzt. Im Vergleich u. a. mit dem DWDS-Korpus wird Kafkas besonderer Stil näher bestimmt, aber auch aufgezeigt, wie eine literaturwissenschaftliche Forschung psychostilistische Methoden anpassen muss, um den Besonderheiten literarischer Texte gerecht zu werden. Generelle Schlussfolgerungen für die Chancen einer literaturwissenschaftlichen Psychostilistik werden abschließend diskutiert.