„Die Stilanalyse ist eine Schlüsselqualifikation literarturwissenschaftlicher Arbeit“ (Meyer 2007: 70). So die Einführung, die man im zweiten Band Methoden und Theorien des Handbuchs Literaturwissenschaften erhält. Aktuelle Beiträge wie beispielsweise Christof Schöchs (2014) „Stilometrische Analysen zu Autorschaft und Gattungszugehörigkeit im französischen Theater der Klassik“ und die korpusgestützte Untersuchung von McIntyre / Walker (2010) zu ausgewählter Lyrik von William Blake sowie Drehbüchern zeigen, dass die alte, aber fortwährende Debatte aus den 1970ern zwischen „Anwälte[n] einer historisch-hermeneutischen Literaturwissenschaft“ und Vertretern einer „ahistorischen Quantifizierung von Stileigenheiten“ (Meyer 2007: 70) ausgetragen zu sein scheint, und dass im Zuge moderner Verfahren die computergestützte Stilometrie (statistical stylistic) als „a good helpmate“ (Tuldava 2008: 369) herangezogen werden kann. Die Gegenstände der Stilometrie sind die Charakterisierung und der Vergleich des Stils von Autoren, Gattungen und einzelnen Werken. 1 Schöch (2014: 132) weist darauf hin, dass die Stilometrie für die Literaturgeschichtsschreibung und Gattungstheorie neue Perspektiven eröffnen könnte. Ein Vorschlag, den Franco Moretti unterbreitet, lautet: „we know how to read texts, now let’s learn how not to read them“ (Moretti 2013 / 2000: 48). Des Weiteren führt er den Begriff „distant reading“ ein, der seit geraumer Zeit in den Digital Humanities kursiert, und erklärt: „where distance, let me repeat it, is a condition of knowledge: it allows you to focus on units that are much smaller or much larger than the text: devices, themes, tropes – or genres and systems“ (Moretti 2013: 48-49).
Diese vorliegende Stilometrie setzt sich zum Ziel, mithilfe statistischer Analysetechniken sowohl eine quantitative als auch qualitative Stiluntersuchung von Prosa der österreichischen Autorin Mela Hartwig zu realisieren. Bislang liegen keine computergestützten Studien für diese Autorin der Zwischenkriegsjahre vor. Dies soll zum Anlass genommen werden, exemplarisch die Verwendung einer Herzmetaphorik als spezifischen Stil der Autorin zu untersuchen. Es sollen mithilfe der Stilometrie intuitive Annahmen überprüft und in Zusammenhang mit ausgewählten Prosatexten des literarischen Expressionismus gesetzt werden. Hartwig verwendet das Herz mit einer tieferen Bedeutung, sie meint nicht nur das Organ, das den Körper mit Blut versorgt. Bei den expressionistischen Texten von Hartwig kann das Herz bei der Frau beispielsweise für das Pendant des männlichen Gehirns stehen. Hierbei wird der Frau scheinbar das Vermögen des Denkens abgesprochen und an Stelle des Gehirns, also dem rationalen Vermögen des Mannes, arbeitet das Herz der Frau im Sinne eines affektiven, emotionalen, spontanen Teils des weiblichen Körpers. Es scheint auffällig, dass Hartwig ein binäres System von Herz – Verstand / Gehirn und damit einhergehend eine Gegenüberstellung von Frau – Mann herausarbeitet. Diese Dichotomie und das überwiegend weibliche konfliktgeladene Figurenrepertoire sowie die Erzähltextperspektive aus Sicht von weiblichen Figuren könnte als typisches ,weibliches Erzählen‘ gefasst werden. Die erste Hypothese lautet, dass in Mela Hartwigs gesamter Prosa die Herzmetaphorik Verwendung findet. Die zweite Hypothese lautet, dass die Herzmetapher bei Mela Hartwig wesentlich mit Weiblichkeit verbunden ist.
Ziele des Vortrages sind das zielgruppenorientierte Präsentieren des methodischen Vorgehens und der Zwischenergebnisse, die Erläuterung der interdisziplinären Fragestellungen, Arbeitshypothesen und das in Zusammenhangsetzen der Zwischenergebnisse der Stilometrie für Prosatexte von Mela Hartwig mit dem von Moretti (2013) etablierten distant reading.
Es wurden zwei literarische Textkorpora manuell erstellt und für das dritte Vergleichskorpus eine Kombination von zwei Korpora aus COSMAS II 2 herangezogen. Die Kriterien für die manuelle Generierung lauten, dass (i) die Texte gemeinfrei und elektronisch verfügbar sind 3 ; (ii) die Texte aus der Gattung Epik stammen; (iii) die Autoren als kanonisierte Vertreter_innen des Expressionismus gelten. Das erste Korpus umfasst Hartwigs publizierte Texte (vgl. Hartwig 2001 / 1931, 2002 / 1929; 2004 / 1982; fortan KMH). Das zweite Korpus besteht aus 122 Texten des Expressionismus (fortan KEX). Für das dritte Vergleichskorpus wird auf das Institut für Deutsche Sprache (IDS) und die Volltextdatenbank COSMAS II zurückgegriffen. 4 Allerdings wurde dieses mächtige Korpus insofern verkleinert, als dass nur das Korpus „lit-pub - Belletristik / Trivialliteratur“ mit 148 Texten und das „loz-pub - Belletristik des 20. und 21. Jahrhunderts“, das 115 Texte beinhaltet, verwendet und ausgewertet wurden. Insgesamt umfasst dieses Vergleichskorpus 263 Texte (fortan COSMAS II). Das Vorgehen der Analyse der Herzmetapher wurde in drei Schritten vollzogen: (i) Für jeden Text von Hartwig wurde eine Konkordanzliste zum Wort 'Herz' erstellt, um dann manuell zu überprüfen, ob das Wort 'Herz' als Metapher im oben eingeführten und erläuterten Verständnis verwendet wird. Ebenso wurde dies für die Vergleichskorpora überprüft. (ii) Es sollte das Hartwig-Korpus (KMH) mit dem Korpus des Expressionismus (KEX) verglichen werden, um die Signifikanz der Herzmetapher bei Hartwig mit dem log-likelihood-Test (G2) zu berechnen. Es galt zu prüfen, ob allgemein die Herzmetapher bei Texten ein beliebtes Stilmittel in der schöngeistigen Literatur darstellt. Ob ein Ergebnis nun als signifikant eingestuft werden kann, hängt von der Höhe des G²-Wertes ab. Als Signifikanzniveau wurden 5 % angenommen. Wurde ein G²-Wert erreicht, der den kritischen Wert von 3,84 oder größer ausgibt, dann wurde dies als signifikant gewertet.
In dem Korpus von Mela Hartwig (KMH) kommt die Herzmetapher in neun von elf Texten vor. Die Auswertung des Korpus mit den expressionistischen Texten ergab, dass von 122 Texten 37 eine Herzmetapher aufweisen. Die Ergebnisse der Berechnung zeigen, dass Hartwig in 81,82 % ihrer publizierten Texte die Herzmetapher verwendet. Im Falle der expressionistischen Texte ist berechnet worden, dass 30,33 % der Prosatexte eine ähnliche Herzmetapher nachweisen. Da der G²-Wert 5,78 beträgt und der zuvor festgelegte kritische Wert bei 3,84 oder größer liegt (bei einem Signifikanzniveau von 5 %), ist die Herzmetapher bei Hartwigs Texten gegenüber den expressionistischen Texten im Korpus signifikant. Auch gegenüber dem größeren, epochenübergreifenden COSMAS II-Korpus tritt die Herzmetapher signifikant häufig auf: Die Berechnung ergab einen G²-Wert von 8,42 und übersteigt den kritischen Punkt. Dieser G²-Wert bestätigt meine zu Beginn dieser Arbeit geäußerte Vermutung, dass es sich bei der Herzmetapher, wie sie Mela Hartwig verwendet, um eine Besonderheit ihres Schreibstils handelt. Betrachtet man den niedrigen G²-Wert von 0,97, der bei der Berechnung der expressionistischen Texte (KEX) und COSMAS II herauskommt, fällt auf, dass hier eine ähnliche prozentuale Verteilung der Herzmetapher (KEX = 30,33 % und COSMAS II = 24,71 %) vorliegt. Der Wert unterschreitet den festgelegten kritischen Wert von 3,84. Dennoch sei darauf aufmerksam gemacht, dass in den Texten des Expressionismus ca. 6 % häufiger die Herzmetapher vorkommt.
Für die zweite Hypothese, dass Mela Hartwig die Herzmetapher nur in Texten verwendet, bei der sie eine weibliche Erzähltextperspektive und einen weiblichen autodiegetischen Erzähler einsetzt, wurde ein Konkordanz-Plot im Barcode-Format für das Personalpronomen 'ich' erstellt. Je dunkler der Barcode-Streifen des Konkordanz-Plots ausfällt, desto häufiger tritt an der schwarzen Stelle das angesteuerte Wort der Suchanfrage auf. Das Ergebnis der Visualisierung zeigt, dass das Personalpronomen in den Texten, in denen die Herzmetapher vorkommt, sehr viel häufiger verwendet wird. In Texten, in denen die Herzmetapher nicht vorkommt, findet sich das Pronomen, wenn überhaupt, nur in der wörtlichen Rede.
Diese Stilometrie brachte das Zwischenergebnis zu Tage, dass man durch die Kombination von distant und close reading und computergestützten Verfahren dazu in der Lage ist, stilistische Alleinstellungsmerkmale in Prosatexten herausfiltern und visualisieren zu können. Für die Prosatexte der österreichischen Autorin der Zwischenkriegsjahre Mela Hartwig (vgl. KMH) konnte so berechnet werden, dass die Herzmetaphorik signifikant häufig im Vergleich mit anderen literarischen Texten aus den Vergleichskorpora (vgl. KEX und COSMAS II) verwendet wird. Dieses Ergebnis kann im Hinblick auf die Interpretation der weiblichen Erzählstruktur und der sprachlichen Darstellung von Weiblichkeit in Hartwigs Prosa herangezogen werden. Zusätzlich wurde mithilfe eines Visualisierungstools das Personalpronomen 'ich' untersucht und dadurch als ein Indikator für einen weiblichen autodiegetischen Erzähler in Hartwigs Prosa ausgemacht. Bei der Visualisierung im Barcode-Format sowie bei der Ermittlung der G²- Werte soll deutlich gemacht werden, dass es hierbei immer noch einer manuellen Überprüfung, Auswertung und Interpretation der Werte und schließlich der einzelnen Textstellen bedarf.
Es werden weitere korpusbasierte Analysen angestrebt. Diese erfordern aber eine Voraussetzung: Im Zuge der „digitale[n] Wende“ (Schöch 2014: 130) ist es weiterhin wünschenswert und erforderlich, dass immer mehr literarische Texte digital zur Verfügung stehen oder diese durch leichte und praktikable Verfahren der Texterkennung (OCR, optical character recognition) digitalisierbar gemacht werden können. Für den literarischen Expressionismus müssten dafür noch vorbereitende Maßnahmen getroffen werden. Es wäre interessant, ein weiteres Korpus für die Gattung Lyrik zu erstellen und über Konkordanzlisten beispielsweise das Wort 'Herz' anzusteuern. Sowohl für solch ein Korpus der Lyrik als auch für die bereits erstellten Korpora der Prosatexte ergeben sich weiterführende Fragen: Ist die Herzmetaphorik bei Hartwig auch weiterhin signifikant, wenn lediglich Texte untersucht werden, die nicht nur von weiblichen Autoren geschrieben wurden, sondern auch aus weiblicher Erzählperspektive dargestellt werden? Lässt sich eine Epoche festmachen, oder handelt es sich hierbei um ein epochenübergreifendes und genderunabhängiges sprachlich-stilistisches Phänomen? Könnte man eine Parallele ziehen und von „weiblichem Erzählen“ sprechen, wie es Gabriele Otto (2009) für die Nachkriegsliteratur von Ingeborg Bachmann konstatiert? Dabei soll generell betrachtet werden wie ,die Frau‘ literarisiert und versprachlicht wird.