Mit unserem Vortrag wollen wir folgende Beiträge für die Digital Humanities leisten:
1. Vorstellung und kritische Reflexion der Forschungsergebnisse anhand der abgeschlossenen Umfrage für Berlin/Brandenburg: Hier werden wir vor allem aufzeigen, zu welchen Ergebnissen wir mit unserer Umfrage als Basis für unsere umfassender angelegte Studie gelangt sind und welche Anforderungen an zukünftige Forschungsarbeiten in den Geisteswissenschaften und der Informatik sich aus der gesamten Studie ableiten lassen können.
2. Reflexion über die Nutzung der TaDiRAH-Taxonomie als methodische Basis für die Umfrage: In unserem Vortrag werden wir unsere Probleme aufzeigen, die bei der Nutzung der Taxonomie im Rahmen des Fragebogens entstanden sind. Diese Probleme sind einerseits auf die Verwendung bestimmter Fachbegriffe aber auch auf eine teilweise fehlende systematische Abgrenzung zwischen Forschungstätigkeiten zurückzuführen. Wir werden konkrete Vorschläge für die Verbesserung der Taxonomie vorstellen.
3. Reflexion über den Einsatz einer Umfrage als Forschungsinstrument: In diesem Teil des Vortrags werden wir vor allem auf statistische Anforderungen, die aus der Nutzung einer solchen Forschungsmethode erwachsen, eingehen und zeigen, inwiefern unsere Ergebnisse verallgemeinerbar sind.
Die Umfrage-basierte Studie orientiert sich an folgendem Vorgehen (Müller et al. 2014): (1) Definition der Forschungsziele, (2) Bestimmung der Zielgruppe und der möglichen Stichprobe, (3) Spezifizierung des Fragenbogendesigns, (4) Überprüfung und Pre-Tests, (5) Umsetzung und Einführung sowie (6) Datenanalyse. Wir werden auf diese einzelnen Schritte im Folgenden kurz eingehen.
Der Anlass für diese Studie ist der Sammelband #bbdh – Berliner Beiträge zu den Digital Humanities, welcher vom Einstein-Zirkel Digital Humanities im Januar 2016 veröffentlicht wird. Der darin erscheinende Beitrag „Forschungspraxis in den Geisteswissenschaften oder wieviel Digital Humanities gibt es in den Geisteswissenschaften?“ (Müller-Birn et al. im Druck) liefert einen Überblick über den Einsatz von Software in der Forschungspraxis in den Geisteswissenschaften. Wir wollen dabei unter anderem folgende Fragen beantworten:
Darüber hinaus soll die Studie einen Beitrag für den Forschungsbereich E-Research leisten. Durch den Einsatz von Software ändert sich, wie Wissenschaftler_innen forschen. Besonders in den Geisteswissenschaften scheint diesbezüglich ein Wandel stattzufinden. Unser Ziel ist es, besser zu verstehen, welche Anforderungen an zukünftige Software gestellt werden und wie die Informatik Forscher_innen in ihren Wissensschaffungsprozessen besser unterstützen kann. Daher sind wir explizit auch an Umfrageteilnehmer_innen interessiert, die noch keine oder wenig über die gängigen Office-Programme hinausgehende Software in ihrer persönlichen Forschungspraxis einsetzen.
Wir haben eine geographische Beschränkung vorgenommen, indem der Fragebogen vor allem an Wissenschaftler_innen in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen in Berlin und Brandenburg gerichtet ist.
Eine große Herausforderung war es, den Begriff der Forschungspraxis näher zu definieren. Hierfür haben wir bestehende Fragenbögen zu Arbeitspraktiken im Bereich DH analysiert. Diese überwiegend im angloamerikanischen Raum durchgeführten Studien konzentrieren sich vor allem auf text-zentrierte Forschungsmethoden und zeigen die zunehmende Durchdringung von digitalen Methoden in der textbezogenen (insbesondere philologischen, linguistischen und historischen) Quellenarbeit (vgl. Unsworth 2000; Houghton et al. 2004; Toms / O’Brien 2008; Ceccarelli et al. 2011; Kemman et al. 2014). Als Studien für den deutschsprachigen Raum wurden Burghardt et al. (2015) und Stiller et al. (2015) herangezogen. In der Auswertung dieser Studien stellte sich heraus, dass die Begrifflichkeiten variieren bzw. sehr unterschiedlich verwendet wurden, wodurch die Ergebnisse nicht oder nur schwer vergleichbar waren.
Daher haben wir uns entschieden, die Forschungsaktivitäten aus TaDiRAH (Taxonomy of Digital Research Activities in the Humanities) zugrunde zu legen (Perkins et al. 2014), welche unter anderem auf Arbeiten von Unsworth (2000) sowie Gasteiner und Haber (2010) basiert. Die in TaDiRAH definierten Forschungsaktivitäten (research activities) sind in Unteraktivitäten unterteilt. Wir haben diese als Tätigkeiten bezeichnet. Jeder einzelnen Tätigkeit wurde in einem ersten Schritt die jeweils für die Tätigkeit geeignete Software zugeordnet.
Die einzelnen Konzepte wurden wie folgt in der Umfrage zusammengeführt:
Forschungsaktivitäten sind alle Aktivitäten, die auf die Untersuchung von bestimmten Phänomenen in der Forschungsarbeit abzielen. Solche Phänomene können beispielsweise die Pariser Jahrhundertwende oder dramatische Strukturen im elisabethanischen Theater sein. Um solche Phänomene näher zu untersuchen, werden beispielsweise textuelle, bildliche oder vertonte Quellen genutzt. Diese Quellen werden mithilfe bestimmter Tätigkeiten bearbeitet, die wiederum durch Software unterstützt werden.
Der Umfrageteilnehmer bzw. die Umfrageteilnehmerin wird dabei zunächst nach einer Priorisierung der Aktivitäten befragt und dann nach der Häufigkeit der Anwendung ausgewählter Tätigkeiten sowie der zugehörigen Software. Darüber hinaus werden eine Reihe weiterer Fragen zur Zusammenarbeit mit anderen Geisteswissenschaftler_innen gestellt sowie demographische Angaben abgefragt.
Im Rahmen der Fragebogenerstellung wurde extensives Pre-Testing betrieben. Es wurden 15 Wissenschaftler_innen aus dem Bereich der Geisteswissenschaften gewonnen, eine Word-Version des Fragebogens zu begutachten. In drei Iterationen wurde der Fragebogen immer weiter adaptiert und vor allem die Wortwahl an die Zielgruppe angepasst.
Des Weiteren wurde die Übersetzung von TaDiRAH immer weiter geschärft und bestehende Inkonsistenzen in der Beschreibung entfernt. Neben der Überprüfung des Fragebogens durch die Zielgruppe wurde ebenfalls eine Evaluation des Fragebogens aus statistischen Gesichtspunkten durchgeführt, wodurch weitere Anpassungen in der Art der Fragestellung erforderlich waren.
Die Umfrage wurde mit Hilfe der Software Questback / Unipark erstellt und war vom 17. September 2015 bis zum 2. November 2015 aktiv.
Weitere Informationen zur Online-Umfrage und der gesamten geplanten Studie sind auf der Webseite verfügbar: https://practices4humanities.wordpress.com/ (Müller-Birn 2015).
Mit dem Stand Dezember 2015 wurde der Fragebogen von 270 Personen beantwortet, darunter von über 100 Wissenschaftler_innen (N = 123) aus Berlin / Brandenburg. Nach Abschluss der Umfragephase werden die erhobenen Daten analysiert. Aus den Umfrageergebnissen konnten wir fünf typische Softwarenutzungsmuster ableiten, die im Kontext bestehender Literatur diskutiert werden: 1) Word+, 2) Suchmaschine, 3) Annotationen, 4) Social Media und 5) Basissoftware. Drei Nutzungsmuster beschreiben Personen und ihre Forschungspraxis mit dem Einsatz unterschiedlicher Software, zwei Nutzungsmuster zeigen einen eher selektiven Einsatz von Software. Diese Nutzungsmuster werden genauer beschrieben und ihre Bedeutung analysiert.
Als Referenzrahmen bietet diese Umfrage die Möglichkeit, in regelmäßigen Abständen und an unterschiedlichen Orten Entwicklungen aufzunehmen, zu analysieren und zu begleiten. Eine derart gestaltete, breitere Umsetzung ist im Rahmen von DARIAH-EU anvisiert (Anne Baillot in Zusammenarbeit mit Laurent Romary).
Die Umfragedaten liefern eine solide Basis für Antworten auf so zentrale Fragen der europäischen Digital Humanities. Dies betrifft an erster Stelle die Verortung des Bedarfs der Forscher_innen im Hinblick auf ihre Arbeitsprozesse und die Software, die sie täglich benutzen. Die Umfrageergebnisse spiegeln ebenfalls die Selbstwahrnehmung der wissenschaftlichen Gemeinschaft als digital forschend wider und leisten in diesem Sinne einen Beitrag zur reflexiven Entwicklung digitaler Methoden in den europäischen Geisteswissenschaften.
Die Umfrage ist Teil einer umfassenderen Studie, die uns über die wissenschaftliche Arbeit und die bestehenden Praktiken Aufschluss gibt und konkretisiert, wie die Forschungsarbeit in den Geisteswissenschaften durch Softwareanwendungen unterstützt wird und innerhalb welcher Kontexte Technologien eingebettet sind. Die Erkenntnisse aus der Umfrage bilden die Basis für Interviews, die im Rahmen von sogenannten Arbeitsplatzstudien durchgeführt werden. Die Frage, ob der Umfrageteilnehmer bzw. die Umfrageteilnehmerin auch für ein Interview zur Verfügung stehen würde, haben über 40 Personen in der vollständigen Stichprobe (N = 270) positiv beantwortet und ihre E-Mail-Adresse angegeben. Ziel ist es herauszufinden, wie sich ausgewählte Technologien und Infrastrukturen in die tagtägliche Arbeit von Forscher_innen einbetten. Dabei soll bewusst die angemahnte Ingenieursperspektive auf Software überwunden werden (Fuller 2008) und Software dahingehend untersucht werden, wie Forscher_innen diese für ihre epistemologische Prozesse und ihrer tagtäglichen Forschungspraxis verwenden (Berry 2011). Die dabei gesammelten Einsichten sollen vor allem für die (Weiter-)Entwicklung von Software für die geisteswissenschaftliche Forschungspraxis genutzt werden.