Methoden der Informationsvisualisierung (InfoVis) zielen auf die Unterstützung von Kognition im Angesicht von abstrakten Daten- und Themenbeständen. Visuelle Repräsentationen helfen bei der primären Synthese von multiplen Datendimensionen, sowie bei der vertiefenden Analyse und der Vermittlung relevanter Zusammenhänge. Entsprechend trägt auch in den Geisteswissenschaften seit geraumer Zeit ein wachsendes Spektrum von bildgebenden Verfahren zur Exploration und Kommunikation textlicher und thematischer Korpora bei (vgl. Sula 2013; Jänicke et al. 2015). Neben Methoden der statistischen Datenvisualisierung offerieren Techniken der Kartographie und Chronographie, der Dendrogrammatik, des Topic Modelling oder der Netzwerkvisualisierung Einsichten in die Struktur und Dynamik komplexer multidimensionaler (Meta)Datenbestände. Nachdem die zunehmende Nutzung dieser einzelnen Verfahren bereits vorausgesetzt werden kann, richtet der Beitrag seinen Fokus auf ihre synergetische Kombination und Vernetzung im Rahmen von Interfaces mit „ multiplen views“ (Roberts 2007).
Interfaces mit multiplen Ansichten kombinieren unterschiedliche Visualisierungsverfahren in einem parallelen Arrangement um deren komplementäre Perspektiven zu verknüpfen. Da multidimensionale Datensätze selten durch Einzelvisualisierungen erschöpfend exploriert werden können, sind multiple Ansichten als „mixed methods“-Ansätze der Visualisierung zu verstehen, die einander ergänzende Blickwinkel und Projektionen zu einem analytischen System mit erhöhter Leistungskraft kombinieren. Multiple Ansichten multiplizieren aber auch die kognitiven Anforderungen an NutzerInnen, die nicht nur die jeweiligen Eigenlogiken (i.e. Syntax & Semantik) der Einzelsichten zu entschlüsseln haben, sondern die auch ihre Einsichten aus einer bildersprachlichen Vielfalt in ein bigger picture zusammenführen müssen. Dies kann zu mehr oder weniger gelungenen mentalen Montagen führen.
Im Rahmen der kognitionswissenschaftlichen Reflexion eines solchen makrokognitiven Sensemaking-Szenarios greift Tversky (1993) auf die Theorie mentaler Modelle (Johnson-Laird 1980) zurück – und postuliert die Existenz eines Qualitätsgefälles von mentalen Repräsentationen. Während sie den Begriff des „ mentalen Modells“ für Repräsentationen reserviert die ein hohes Maß an Kohärenz, Konnektivität und proportionaler Konsistenz ihrer Teile aufweisen, werden weniger kohärente Repräsentationen „ kognitive Collagen“ genannt, die als schnelle und partielle Skizzen von komplexen Gegenständen meist fragmentarisch bleiben und die verschiedene Referenzpunkte nur unvollständig und in verzerrter Form verknüpfen. In dieser Gegenüberstellung besitzen kognitive Collagen zwar den pragmatischen Vorteil der Schnelligkeit (good-enough representations), aber nur mentale Modelle erlauben dank ihrer Eigenschaften der Kohärenz und Proportionalität anspruchsvollere kognitive Anschlussoperationen, wie perzeptive und konzeptuelle Schlussfolgerungen, globale Bewertung lokaler Einsichten, sowie die Erschließung bislang unbekannter Perspektiven auf den Gegenstand. Kohärenz ist vor diesem Hintergrund als Desiderat von mentalen Repräsentationen zu betrachten, das gemäß den Ansätzen der distribuierten Kognition (Scaife / Rogers 1996; Liu et al. 2007; Patterson et al. 2014) aber nur dann erzielt werden kann, wenn auch schon bei externen Repräsentationen (InfoVis Interfaces) ein ausreichendes Maß an Kohärenz gegeben ist.
Die Bedeutung dieser Diskussion für die zukünftige Entwicklung von Visualisierung und Modellierung in den Digital Humanities ergibt sich unmittelbar aus der multidimensionalen Natur der meisten ihrer Datenbestände. InfoVis-Interfaces mit „multiplen views“ sind in solchem Kontext als Standardtechnik unverzichtbar, doch nur wenig Aufmerksamkeit wurde bislang der Frage gewidmet, wie aus einer beziehungslosen Pluralität von Ansichten ein konzeptuell wohlvernetztes und kohärentes Ensemble geformt werden kann, das dabei hilft, diverse eigenlogische Ansichten kognitiv bestmöglich zu kohärenten mentalen Modellen zu verknüpfen. Da die Möglichkeiten solcher Verknüpfungen meist schon im Rahmen einzelner Forschungsprojekte unterentwickelt bleiben, wird die Verknüpfung von Visualisierungen verschiedener Forschungsgruppen oder Communities oft gar nicht erst versucht.
Um die kollektive Aufmerksamkeit verstärkt auf dieses Defizit zu lenken und ForscherInnen der Digital Humanities auch auf der Ebene makrokognitiver Operationen methodisch zu unterstützen, präsentiert und vernetzt der Beitrag eine Reihe von Kohärenztechniken zu einem methodischen Rahmenwerk, das dazu imstande ist, multiple Ansichten und ihre diversen Bildsprachen unter Erhalt ihrer jeweiligen Eigenlogiken effektiver zu vermitteln.
A) Methoden die die initiale Konstruktion von mentalen Modellen unterstützen: Advance Organizer veranschaulichen die Grundstrukturen eines Datensatzes, die eine erste konzeptuelle Orientierung erlauben und durch detaillierte Lernprozesse angereichert werden (Ausubel 1960). Als Navigatoren dienen diese Strukturmodelle der fortgesetzten Orientierung und Navigation zwischen multiplen Ansichten. Mit Blick auf zeitorientierte Daten wird das Potential von Raum-Zeit-Kuben demonstriert, die die Navigation zwischen dynamischen Datenprojektionen unterstützen (Bach et al. 2014), und die als Multiple Raum-Zeit-Kuben für multidimensionale Datenbestände weiterentwickelt werden (Windhager 2013).
B) Methoden die die sequentielle Integration multipler Ansichten in kohärente mentale Modelle unterstützen: Bei der sequentiellen Nutzung multipler Ansichten dienen Seamless Layout Transitions dem Erhalt von bereits vorhandenen „mental maps“ (Freire / Rodríguez 2006) während Seamless Canvas Transitions (Federico et al. 2011) anschaulich die Unterschiede zwischen verschiedenen dynamischen Visualisierungstechniken vermitteln. Techniken der Narrativen Visualisierung verknüpfen schließlich multiple Ansichten über narrative Gestaltungselemente (Segel / Heer 2010), die die Integration durch ergänzende sequentielle Passagen erleichtern.
C) Methoden die die parallele Integration diverser Ansichten in kohärente mentale Modelle unterstützen umfassen verschiedene Typen von Coordinated Multiple Views (Roberts 2007; Sedlmair et al. 2009), durch die verschiedene InfoVis-Layouts, verschiedene zeitliche Selektionen, oder verschiedene Skalierungen in Beziehung gesetzt werden. Koordinierte Interaktionsmethoden wie Linking & Brushing erlauben die vertiefende synchronisierte Exploration und Integration multipler Ansichten. Techniken des Visual Linkings veranschaulichen darüber hinaus Entsprechungen von visuellen Elementen und Strukturen über unterschiedliche Ansichten hinweg (Collins / Carpendale 2007). HyperImage-Techniken (Warnke et al. 2007) ermöglichen zusätzliche Verlinkungen paralleler Ansichten – sowie entscheidende Verknüpfungen des lokalen Interfaces mit Bildern und Modellen außerhalb des Systems.
Der Mehrwert dieses Frameworks ergibt sich aus der erstmaligen Sammlung, Systematisierung und funktionalen Vernetzung von Kohärenztechniken, deren Entwicklung im Rahmen einzelner Applikationen zumeist zur Gänze vernachlässigt wird. Gerade ihre synergetische Erschließung scheint jedoch unverzichtbar, wenn es um zukünftige Systeme mit erhöhter analytischer Auflösung, gesteigerter Nutzerfreundlichkeit, und kohärenter visueller Syntax geht. Neben der praktischen Implementierung dieser Techniken betrachten wir ihre kognitionswissenschaftlich Reflexion und Evaluation als unerlässlich für die Entwicklung von InfoVis-Interfaces der nächsten Generation, die neben den Standardoperationen der visuellen Analyse auch makrokognitive Inferenz- und Syntheseprozesse unterstützen.
Zudem betrachten wir die kollektive Erkundung und Entwicklung von inter-piktorialen Kohärenztechniken als unmittelbare Voraussetzung für die verbesserte Vernetzung und Co-Konstruktion von geteilten mentalen Modellen ( shared mental models) zwischen unterschiedlichen Communities (Swaab et al. 2002). Ein Ausblick richtet sich vor diesem Hintergrund auf die Möglichkeit, durch die verbesserte Vernetzung von visuellen Repräsentationen auch die Abstimmung von Diskursen und Disziplinen in den Digitalen Geisteswissenschaften besser zu koordinieren.