Im Poster wird die Relevanz philosophisch informierter Ontologie-Modellierung für den Aufbau einer Informationsinfrastruktur und die Entwicklung von Analyse- und Visualisierungswerkzeugen am Beispiel des neuen Forschungsschwerpunkts „Frozen and Unfrozen Conflicts“ (Konfliktforschung) am Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg gezeigt.
Zum Aufbau der Informationsinfrastruktur kommt Semantic Web-Technologie zum Einsatz. Die Modellierung bzw. Repräsentation des Wissens aus den Perspektiven der beteiligten Disziplinen Geschichtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Politikwissenschaft erfolgt durch geeignete Top-Level- und Fach-Ontologien. Die Vernetzung des Wissens erfolgt durch semantische Informationsintegration (Linked Data).
Das Ziel ist die Unterstützung der multiperspektivischen Erklärung von Territorialkonflikten durch die Integration des Wissens aus Sicht der verschiedenen Disziplinen auf den selben Untersuchungsgegenstand und die Nachnutzung dieses Wissens durch Werkzeuge zur visuellen Analyse. Entscheidend dabei ist gemäß dem erkenntnistheoretischen Perspektivismus (Nietzsche 2009), daß dadurch neue Erkenntnisse erlangt werden können.
Semantic Web-Ontologien ermöglichen zwar die Modellierung von Ereignissen, der beteiligten Akteure und des räumlichen und zeitlichen Kontexts (Simple Event Model (SEM) von van Hage et al. 2011) oder auch mereologischen und kausalen Relationen zwischen Ereignissen (Event-Model-F von Scherp et al. 2009), aber es können damit nur eingeschränkt die verschiedenen Perspektiven auf die Ereignisse und die Rollen der daran beteiligten Akteure repräsentiert werden. Goerz und Scholz (2009) behaupten, daß CRM ein Rahmenwerk für transdisziplinäre Forschung bereitstellen kann. Allerdings beschränkt sich ihr beschriebener Ansatz bisher nur auf die Integration von archäologischen und biologischen Wissensorganisationssystemen.
Das besondere Problem, die geisteswissenschaftliche Wirklichkeit (z. B. das Handeln verschiedener Akteure, die Konstitution von Institutionen und Staaten, Normen und Werte, verschiedene Kausalitäten) zu repräsentieren und den Zusammenhang und die gegenseitige Abhängigkeit des Wissens aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu erfassen, wird bisher nur ansatzweise gelöst (Robinson 2011; Heller / Herre 2004; Semenova 2008; Krieger / Declerck 2014). Mein Ansatz greift daher zum Aufbau einer Ontologie zur Repräsentation des Bereichs der Geisteswissenschaften insbesondere auf Ideen aus der phänomenologischen Ontologie Husserls zurück. Seine Unterscheidung zwischen formaler und materialer Ontologie und seine Einführung der Grundkategorie ‚Sinn‘ (Husserl 2009) hilft dabei, die Top-Level-Ontologie und Fach-Ontologien zur Repräsentation des Wissens aus Sicht verschiedener Disziplinen aufzubauen. Die Theorie der Fundierung und Abhängigkeit (Husserl 2013) ermöglicht die Repräsentation des Zusammenhangs der Entitäten aus verschiedenen Regionen und unterstützt dadurch die Multiperspektivität (z. B. bei der Modellierung der Konstitution von gesellschaftlichen Institutionen und deren gegenseitige Abhängigkeiten).
Durch die Anwendung von Ideen aus der philosophischen Ontologie wird ein explanatorisches Rahmenwerk für multiperspektivische Erklärung aufgebaut, in dem ontologische Fragen geklärt werden – z. B. nach dem ontologischen Status von Grenzen (Smith 1997) und deren Repräsentation in Semantic Web-Ontologien (Robinson 2009) oder die Frage, welche konstitutiven Elemente einen Staat ausmachen, d. h. ab wann ein Pseudo-Staat ein Staat ist oder was ein Staat überhaupt ist: eine Organisation oder ein völkerrechtliches Subjekt (Robinson 2010)?
Die Relevanz des Ansatzes wird mit einem Werkzeug zur visuellen Analyse demonstriert: Mit der ‚synchronoptischen Konfliktgeschichte‘ (in Anlehnung an die „Synchronoptische Weltgeschichte“ von Peters) können historische, wirtschaftliche, politische und soziale Einflußfaktoren für die Entstehung bzw. das Einfrieren und Auftauen von frozen conflicts in Beziehung gesetzt werden. Ereignisse können am besten im Kontext anderer Ereignisse verstanden werden (Allen 2005). Deshalb werden mehrere parallel verlaufende Zeitleisten verwendet, um die Konflikte und die beinflussenden Faktoren aus verschiedenen Perspektiven darzustellen und in Beziehung zu setzen. Die Forscher werden so bei der explorativen Suche und Analyse der ‚unknown unknowns‘ der „Wirkungszusammenhänge“ (Dilthey 1992) zwischen den an der Entwicklung der Konflikte beteiligten Akteuren (z. B. die Rolle der EU-Außenpolitik oder der Politik Russlands) unterstützt.
Territorialkonflikte wie der gegenwärtige Ukraine-Konflikt haben die Eigenart, daß sie einfrieren, aber jederzeit wieder auftauen können. Die vergleichende Analyse der Fluktuationsdynamik des Einfrierens und Auftauens in Abhängigkeit der Einflußfaktoren über längere Zeiträume ist daher ein naheliegender Anwendungsfall für das Werkzeug. Ein anderer Anwendungsfall ist der synchrone oder auch diachrone Vergleich. So lassen sich über einen historischen Vergleich womöglich Territorialkonflikte zur Zeit des zaristischen Russland finden, die ähnliche Konstellationen aufweisen, wie die aktuellen Konflikte.
Das Werkzeug kann über SPARQL auch Information aus der DBpedia oder anderen Informationsbeständen einbeziehen. Ein Vorteil dabei ist, daß zunächst der zeitliche und räumliche Kontext genügt, um Konfliktereignisse und die beteiligten Akteure in Beziehung zu bringen. Über Vokabulare wie das Data Cube vocabulary oder SDMX können auch Forschungsdaten wie Statistiken in die visuelle Analyse einbezogen werden (Atemezing / Troncy 2014), um auch sozio-ökonomische Faktoren zu berücksichtigen.
Die Bedeutung der Digital Humanities als fächerübergreifendes Forschungsparadigma, das geisteswissenschaftliches Verstehen im Sinne Diltheys unterstützt, wird an diesem Beispiel für multiperspektivische Konfliktforschung deutlich: Die Digital Humanities können zur multiperspektivischen Erklärung von Konflikten beitragen, indem sie den beteiligten Disziplinen eine gemeinsame virtuelle Forschungsumgebung und digitale Werkzeuge zur Analyse und Visualisierung ontologisch aufbereiteter digitaler Ressourcen bereitstellen.