Die Rolle des Zeigens

Kepper, Johannes
Musikwissenschaftliches Seminar Detmold / Paderborn, Deutschland
kepper@edirom.de

Inhalt

Ein zentrales Merkmal der Digital Humanities ist die Verwendung von Codierungen, um verschiedenste fachwissenschaftliche Inhalte und Forschungsgegenstände digitalen Methoden und Fragestellungen zugänglich zu machen. Vor allem im Bereich Digitaler Editionen werden diese Codierungen häufig durch Faksimiles ergänzt, die einen Zugriff auf das „Original“ bieten sollen. Die hier vorgeschlagene Panel Session geht der Frage nach, in welchem Verhältnis Codierung und Faksimile in verschiedenen Disziplinen zueinander stehen.

Literaturwissenschaftliche Editionen haben i. d. R. den Vorteil, dass die einzelnen Zeichen weitgehend dem Zeichenvorrat der Schriftsprache entnommen werden und sich damit innerhalb des gleichen Zeichensystems als Codierung erfassen lassen. Diese Nähe zwischen Codierung und Codiertem veranlasste die (missverständliche) Rede von der "Rekonstruktion" der Handschrift durch deskriptive Apparate. Dennoch wurde in der Folge die Unersetzlichkeit von Faksimiles verfochten. Die jüngeren Entwicklungen in der digitalen Editorik haben die Möglichkeiten der Erschließungstiefe auf der Ebene der Textkodierung stark erweitert und zugleich den Faksimile-Editionen neuen Auftrieb gegeben, ohne beider Verhältnis konzeptionell zu klären.

Gegenstand der Altertumswissenschaft sind verschiedene Schriftsysteme, deren Bestandteile von rein bildhaften Schriftzeichen (z. B. Ägyptische Hieroglyphen) über abstraktere Zeichen, die heutigen Buchstaben ähnlich sind (z. B. phönizisches Alphabet), bis hin zu Buchstaben des griechischen und lateinischen Alphabets reichen. Für paläographische Fragen sind genaue Beschreibungen der Zeichen unerlässlich; in der Epigraphik spielt z. B. neben dem Material des Schriftträgers auch das gegenseitige Durchdringen von Bild und Text eine Rolle. Das Zeigen im Faksimile ist ein fester Bestandteil der Auseinandersetzung mit dem Text, da alle Phänomene der Schrift, des Schreibens und der Beschriftung allein in der Codierung nur schwer abgebildet werden könnten.

In der Musiknotation haben die geschriebenen Zeichen zwar überwiegend eine klar umrissene, d. h. codierbare Bedeutung. Allerdings finden sich vor allem in Skizzen und Entwürfen oft fragmentarische Zeichen, bei denen jede Zuweisung eines Namens bereits mehr in ein solches Zeichen hineininterpretiert, als dieses in einem solchen Stadium auszusagen vermag 1. Eine mögliche Antwort auf die daraus resultierenden Probleme ist die bewusste Trennung von deutender Codierung und (vermeintlich) objektivem Faksimile, die dafür engmaschig aufeinander bezogen (d. h. verknüpft) werden.

In der Kunst, insbesondere der Malerei, gibt es keine direkte Entsprechung zum Einzelzeichen, und somit keine Transkription im eigentlichen Sinn. Der Fokus liegt hier entsprechend ganz auf dem Faksimile, welches direkt gezeigt wird. Allerdings gibt es häufig wiederkehrende Motive und Topoi, die markiert, verknüpft und kommentiert werden können. Damit einher geht eine andere Perspektive: Der Inhalt wird nicht transkribierend codiert, sondern durch Annotationen erschlossen.

In allen vorgestellten Wissenschaften ist ein Spektrum verschiedener Kombinationsmöglichkeiten von Faksimilie und Codierung zu beobachten. Diese Herangehensweisen sind dabei aber nicht rein fachspezifisch, sondern illustrieren fächerübergreifend eine Bandbreite unterschiedlicher Auffassungen zur Abgrenzung von Befund und Deutung. Im Rahmen der Panel Session soll zunächst durch Kurzvorträge in die Thematik und die Situation der Einzeldisziplinen eingeführt werden. Nach dieser ersten halben Stunde werden die Referenten zunächst für eine weitere halbe Stunde auf dem Podium die verschiedenen Ansätze erörtern, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Schließlich soll das Plenum in diese Diskussion einbezogen werden, um möglichst weitere Aspekte ggf. auch aus anderen Fächern beizutragen.

Appendix A

1Ein Notenkopf mit Hals könnte in einer Skizze statt einer Viertelnote z. B. auch eine Achtelnote bezeichnen, bei der aufgrund des fragmentarischen Charakters das Fähnchen (noch) nicht gesetzt wurde.